Es war ein Tag, der gar nicht erst hätte anfangen sollen. Zumindest nicht so.
Der Wecker zu spät, oder das Klingeln gar nicht erst gehört, der Kaffee zu heiß, das Brötchen zu alt. Draußen Regen, der eigentlich Schnee hätte sein sollen, aber aus wer weiß welchen Gründen vergessen hatte, seine Konsistenz rechtzeitig zu verändern, der Fahrradsattel nass und die Handschuhe noch in der Schublade.
Und jetzt saß er fluchend und beinahe heulend im Schlamm, spürte die Nässe durch jede Pore der Hose und dann der Haut kriechen, das Fahrrad lag beinahe unschuldig neben ihm auf dem zu nassen Waldweg. Er schüttelte den Kopf und merkte, dass er auch keine Mütze auf dem Kopf hatte – die Tropfen aus den nassen Haaren landeten in seinen Ohren.
Er saß, war eins mit Kälte, Schmutz, Regentropfen oder Tränen und seinem gescheiterten und vergeudeten Tagesanfang und wollte sich nicht mehr rühren, am besten nie mehr.
Mist, Mist, Mist!
Für einen Moment war er nicht sicher, ob auf einmal laut geworden war, was er gedacht hatte oder ob die Stimme doch von außerhalb kam.
Verdammt noch mal, hilf mir endlich!
Von außerhalb.
Hell, klar, leise aber deutlich, mit einem fast süßen Klang, der ihn auf einmal an lange blonde Locken denken ließ.
Und er saß da, matschbesudelt und tatsächlich am Boden.
Sah auf. Suchte. Nach der Stimme, nach der Frau.
Niemand. Da war niemand.
Was ist? Bist du blind? Los jetzt! Ich hab nicht alle Zeit der Welt!
Es war soweit, er drehte durch. Hörte Stimmen. Besser: eine lieblich klingende fluchende Stimme. Bis jetzt war ihm nicht klar gewesen, dass er wirklich so sehr am Ende war.
Du nichtsnutziger Trottel! , flötete die kleine Stimme.
Ich brauche meinen Stern wieder! Hör jetzt endlich auf, Löcher in die Luft zu starren und tu was!!!
Er schloss die Augen.
Ja spinn ich denn? Wie sollst du meinen Stern da runter holen, wenn du die Augen zu machst?
Er öffnete die Augen wieder, es hatte eh alles keinen Sinn mehr. Nichts hatte mehr Sinn, nicht dass er da saß und nicht das, was er da hörte.
Na also, geht doch. Bist doch nicht so schiefgewickelt, wie ich gedacht hab. Also los. Steh auf.
Was?
Aufstehen! Und zwar schnell! Hirn an Füße, du weißt schon!
Hallo, wer ist da?
Ich! Wer denn sonst? Mit wem redest du wohl? Mit einem Geist oder was?
Ich seh aber niemanden!
Naja, kein Grund zum Verzweifeln. Passiert mir öfter. Bei Kindern ist’s einfacher, aber ihr, ihr wollt groß und erwachsen sein, aber seht nur noch die Hälfte. Aber hören kannst du mich ja anscheinend, oder?
Er zuckte zusammen, die Stimme schien direkt an seinem Ohr zu sitzen.
Wer bist du?
Siehst du, hättest du nicht alles verlernt, was du als Kind gewusst hast, wär’s einfacher mit dir. Eine Weihnachtselfe, was sonst. Was glaubst du, was hier noch so alles unterwegs ist! Na ja, glaubst es ja eh nicht. Egal. Wie gesagt, ich hab wenig Zeit, viel zu tun, du verstehst, Weihnachten und so und ich brauch verdammt noch mal meinen Stern wieder!
Aha. Weihnachtselfe. Klar.
Du hast’s kapiert. Und jetzt steh endlich auf!
Ok, ok. Und jetzt?
Das war harte Arbeit. Also. Siehst du den großen Ast, da genau über deinem Kopf?
Er nickte nur. Hoffte, dass niemand ausgerechnet jetzt vorbei kommen würde. Aber bei dem Wetter bestimmt nicht. Da war nur er unterwegs. Er und die Weihnachtselfe. Er sah nach oben, da war tatsächlich ein dicker Ast.
So. Meinen Stern siehst du ja wahrscheinlich auch nicht. An den dicken Ast müsstest du ja mit ein bisschen Anstrengung rankommen. Und wenn du dich mit deinem ganzen Gewicht ranhängst, du dürftest ja mindestens das fünfundsiebzigfache von mir wiegen, da sollte das funktionieren, kannst du den Ast so weit runterziehen, dass du an den kleinen, gebogenen Ast oben drüber erreichen kannst. Also los! Mach mal!
Er stand da, sah den Ast an, sah den gebogenen Ast darüber und dachte: geht nicht. Zu hoch. Sah sich um, ob nicht doch jemand zu sehen war. Niemand.
Lohohos! Ich brauch meinen verdammten Stern!
Nur die zuckersüß schimpfende, blond gelockte Stimme.
Er seufzte. Sehr tief. Und dann begann er zu hüpfen. Sprang hoch und kam in den Matsch platschend wieder auf. War eh alles zu spät. Alles dreckig und nass. Er hüpfte wieder. Und wieder.
Ja, genau, du schaffst es! Weiter, weiter, weiter!
Er sprang und hüpfte, platschte in den Waldbodenmatsch und erreichte mit den Fingerspitzen, beim nächsten Sprung mit der ganzen Hand den Ast und hielt sich fest, zog ihn mit seinem Gewicht nach unten und erreichte tatsächlich den kleinere Ast.
Wie weiter?
Schütteln! Noch mehr schütteln! Ein bisschen noch! Jajajajajaaaaaaa! Da ist er, mein Stern! Mein Sternchen ist wieder da! Danke, danke, danke!
Er ließ sich auf den Boden zurück gleiten, so langsam es ging.
Und jetzt? Krieg ich wenigstens einen Kuss?
Er war mutig geworden. Oder besser: es war jetzt auch schon egal. Aber da war nichts mehr außer der Stille, den Tropfen, die unregelmäßig von den Ästen und letzten Blättern fielen und seinem Atem. Keine Flüche, keine sanfte Stimme, keine blonden Locken, kein Kuss.
Er sah an sich hinunter.
Da stand er: dreckig wie ein Schwein, völlig durchnässt, Matsch in den Schuhen, lächelnd und ihm war warm.